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Rezension von Holger Sambale (23.10.2024, Klassik Heute):
Künstlerische Qualität: 9/10, Klangqualität: 9/10, Gesamteindruck: 9/10

„2019 gegründet, handelt es sich beim Vokalwerk Hannover um ein Ensemble aus jungen Konzertsängern (in der Mehrzahl Absolventen der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover), das von seinem Gründer und musikalischen Leiter Martin Kohlmann projektgebunden zusammengestellt wird und sich besonders mit Alter und Neuer Musik beschäftigt. Um Letztere geht es auf seinem hier vorliegenden CD-Debüt, das zwei dem Chor gewidmete Werke von Hans-Michael Rummler und Graham Lack umrahmt durch Musik von Alfred Koerppen, mit dem der Chor ebenfalls zusammengearbeitet hat.

Intelligente, anregende Musik

Bei den Zwölf Chorliedern von Alfred Koerppen (1926–2022), dessen langjähriger Wohnort Burgdorf bereits geographisch eine Verbindung zum Vokalwerk Hannover herstellt, handelt es sich um einen späten Zyklus aus dem Jahre 2013; die sechs hier vorgestellten Lieder setzen sich vor allem mit Natur und Vergänglichkeit auseinander. Tonale Musik, schwerpunktmäßig in Molltonarten und oft mit modalem Einschlag, konzise und eher sachlich gehalten, zeichnen sich diese Lieder gerade durch ihr intelligentes Zusammenspiel von Wort und Ton aus. So etwa gleich in Die Sternseherin Lise: die „zerstreuten Sterne“ mischen sich polyphon, wenn sie aber alle „weit und breit“ und „rein und schön“ funkeln, dann in strahlender Homophonie, und indem Koerppen das Lied auf der Subdominante, also in einer Art Erwartungshaltung enden lässt, korrespondiert seine Vertonung vorzüglich mit dem Sehnen, von dem im letzten Vers die Rede ist. Es sind solche Details, illustriert durch harmonische Rückungen, kleine rhythmische Verschiebungen und Irregularitäten, die immer wieder überraschen, anregen, Freude bereiten, zumal an den Schlüssen der einzelnen Lieder, die stets noch einmal neue Wendungen, Perspektivwechsel bieten.

Eine kleine dramatische Szene

Dass Hans-Michael Rummler (1946–2023) letztes Jahr verstorben ist, habe ich tatsächlich erst durch diese CD (und, bemerkenswert heutzutage, nicht etwa per Internet) erfahren, und so ist seine Vertonung von Karoline von Günderrodes Die eine Klage (2022) natürlich ebenfalls als Spätwerk zu betrachten. Rummler schreibt hier fast schon eine kleine dramatische Szene in weitgehend tonaler, dabei im Vergleich zu Koerppen stärker chromatisch gefärbter Musiksprache, postromantisch-expressiv, ein wenig den Geist des frühen 20. Jahrhunderts atmend. Alt-Solo und Chor interagieren rege, beredt, geradezu schmerzerfüllt klagend, lange Zeit scheinbar zu d-moll hin kadenzierend, ehe sich die letzte Strophe deutlich abhebt und zunächst um „Suchen und Finden“ und „geliebtes süßes Leben“ quasi ausschweift, bevor der Schluss umso trotziger gerät.

Das Klangbild der „objets trouvés“

Das umfangreichste Werk des Albums ist das titelgebende Choriambics (2023) des englischen, seit vielen Dekaden in Deutschland lebenden Komponisten Graham Lack (Jg. 1954), ein Stück für „various voices and objets trouvés“. Bei diesen „objets trouvés“ handelt es sich um eine Vielzahl von Alltagsgegenständen wie Zeitungs- und Backpapier, Korken, Würfel, Reis- und Pfefferkörner, Schlüssel und Weingläser, daneben aber auch präpariertes Klavier und Orgelpedal. In einer Liveaufführung werden die Objekte (überwiegend) von den Sängern selbst bedient; die Geräuschkulisse, die sie erzeugen, dient insbesondere dazu, als eine Art Interludien das Stück in fünf Abschnitte zu gliedern, die jeweils dem Chor vorbehalten sind. Auf den ersten Blick mag all dies erst einmal recht experimentell wirken, aber das Klangbild des Werks ist letztlich doch eher gemäßigt modern. Der Chorsatz ist überwiegend freitonal mit Dissonanzen, die oft genug diatonisch basiert sind, der Text wird vorwiegend atmosphärisch (und meist eher gemessen fortschreitend) ausgedeutet. Die Geräuschkulisse durch die „objets trouvés“ mutet meist leicht rasselnd, murmelnd, auch ratschend, aber nicht ausgesprochen offensiv oder grell an. Im Konzert selbst dürften all diese Gegenstände bei den Zuhörern für einigen Effekt sorgen, auf der CD hat das Werk bei fast 23 Minuten Spieldauer letztlich doch gewisse Längen, so etwa im dritten Chorabschnitt (der womöglich per Postproduktion noch etwas gedehnt wurde), und dem Schluss geht eine gewisse Stringenz ab.

Sorgfältig differenzierte Interpretationen

Am Ende der CD steht noch einmal Musik von Alfred Koerppen, nämlich fünf seiner Acht Choräle zur Passionszeit, entstanden teils 1952, teils 2007, die – in Kontinuität zu den Beobachtungen zu seinen Chorliedern – die Choralmelodien ebenso flüssig wie (harmonisch) einfallsreich ausgestalten. All diesen Werken lässt das Vokalwerk Hannover unter Kohlmann sehr schöne, wohlartikulierte, homogene und gleichzeitig sorgfältig differenzierte Interpretationen angedeihen – Chormusik präsentiert auf sehr hohem Niveau, ergänzt durch ein wohlgeratenes, ins Detail gehendes Begleitheft. Eine sehr ansprechende Veröffentlichung!“